Prof’in Dr’in Sylvia Thun über Interoperabilität und die Digitalisierung des Gesundheitssystems

29. August 2022

Porträtfoto von Prof’in Dr’in Sylvia Thun

Prof’in Dr’in Sylvia Thun

Foto: BIH/Thomas Rafalzyk
Sylvia Thun

Prof’in Dr’in Sylvia Thun

Medizin und Gesundheit


Eine Welt, in der medizinische Daten zu Forschungszwecken und zur besseren Versorgung von Patient*innen schnell und einfach zwischen Gesundheitseinrichtungen ausgetauscht werden können – davon träumt Prof’in Dr’in Sylvia Thun. Seit mehr als 20 Jahren erforscht sie die Digitalisierung der Medizin und setzt sich für Interoperabilität im deutschen Gesundheitssystem ein, also die Standardisierung medizinischer Daten. Thun ist Direktorin der Core Facility Digitale Medizin und Interoperabilität am Berlin Institute of Health an der Charité Berlin und international renommierte Expertin auf dem Gebiet der Datenerfassung. Für ihre innovative Arbeit im Bereich der Standardisierung medizinischer Daten wurde ihr 2022 das Bundesverdienstkreuz verliehen. Im Interview berichtet Sylvia Thun von den Chancen und Risiken digitaler Medizin, ihren innovativen Bestrebungen nach Interoperabilität und der Vision eines zukunftsfähigen Gesundheitssystems.

Frau Prof’in Dr’in Sylvia Thun, wie steht es um die Digitalisierung unseres Gesundheitssystems?

Um die Digitalisierung des Gesundheitswesens steht es gar nicht so schlecht, wie man glauben mag. Wir befinden uns auf direktem Weg in eine all umfassende Digitalisierung und einige Bereiche unseres Gesundheitssystems sind bereits durchdigitalisiert, beispielsweise die Radiologie oder die Pathologie. Für den Krankenhausbereich haben wir in den vergangenen Jahren einen Score ermittelt, der beschreibt, wie es um die Digitalisierung der einzelnen Krankenhäuser steht. Dabei gab es insgesamt 100 Punkte und der Mittelwert aller Krankenhäuser in Deutschland lag bei 33. Nun werden auf Basis des Krankenhauszukunftgesetzes viele Milliarden Euro in die Digitalisierung der Krankenhäuser investiert. Es werden digitale Portale und telemedizinische Dienste für Patientinnen und Patienten eingerichtet. Das ist der Weg, den wir gehen müssen und technologisch sehe ich überhaupt keine Probleme. Da würde ich uns sogar als hervorragend einstufen.

Wo sehen Sie Probleme bei der Digitalisierung?

Was wir nicht unterschätzen dürfen, ist der massive Fachkräftemangel, beispielsweise im Bereich der Medizininformatik. Kleine mittelständische IT-Unternehmen können nicht alle Krankenhäuser digitalisieren. Die Digitalisierung eines Krankenhauses ist ein Software-Projekt, das über viele Monate geht und sehr viel Arbeit ist.
Was auch nicht gut funktioniert, das sind all die Bereiche, die die Patientinnen und Patienten betreffen. Seit anderthalb Jahren gibt es die elektronische Patientenakte, die derzeit kaum genutzt wird. Der Großteil der Bevölkerung weiß nicht einmal, dass es diese aus Dokumenten basierte Patientenakte schon gibt. Und diejenigen, die davon wissen, sorgen sich meist um ihre Daten. 

Woran liegt das?

Ich bin der Meinung, dass wir in der Kommunikation riesige Fehler machen. Würde man Menschen auf der Straße fragen, ob sie die Patientenakte kennen, würden das vermutlich 95 % der Leute verneinen. Es gibt in Deutschland zu wenig Aufklärungsmöglichkeiten. Wenn es nach mir ginge, dann würden wir die Menschen nach der Tagesschau darüber informieren, warum es die elektronische Patientenakte gibt, welchen Nutzen sie hat und wie sicher die Daten sind.

Die Bürgerinnen und Bürger werden nicht in die Digitalisierung einbezogen und das ist ein grober Fehler.

Sie beschäftigen sich seit mehr als 20 Jahren mit IT-Standards für den barrierefreien Datenaustausch und sind die Expertin auf dem Gebiet der Interoperabilität. Warum ist Ihnen der schnelle und einfache Datenaustausch so wichtig?

Ein schneller und einfacher Austausch von Patientendaten bedingt eine bessere medizinische Versorgung, so einfach ist das. Im niedergelassenen Bereich, also in den Arztpraxen und Apotheken, werden über 200 unterschiedliche Systeme genutzt, um die Daten der Patientinnen und Patienten zu erfassen. In den Krankenhäusern sind es nochmal weitere Systeme. Für eine gute Patientenversorgung müssen diese Systeme miteinander kommunizieren können. Das tun oder taten sie bisher nicht. 

Welche Folgen kann eine mangelnde Interoperabilität für die Patient*innen haben?

Die Übermittlung von Vitalwerten, Laborwerten oder Arzneimitteln ist sehr wichtig für eine gute Therapie. Hier geht es um die Sicherheit der Patientinnen und Patienten. Wenn diese Werte nicht korrekt in das nächste System übertragen werden können, fehlen entscheidende Informationen oder werden gar falsch transportiert, weil unterschiedliche Begrifflichkeiten verwendet werden. Eine Terminologie für Laborwerte gibt es bereits seit über 15 Jahren und sie steht kostenfrei zur Verfügung. Aber kein einziger Softwarehersteller hat diese Terminologie in sein System eingebaut. So werden Begriffe zur Beschreibung der Laborwerte von den unterschiedlichen Herstellern immer wieder neu erdacht. In der Konsequenz können beispielsweise zwei Laborinformationssysteme niemals miteinander in den Austausch gehen, sie sind nicht interoperabel.

Und wie lässt sich mehr Interoperabilität im deutschen Gesundheitssystem erreichen?

Es ist an der Zeit, gesetzliche Vorgaben zu machen. Beispielsweise gibt es den sogenannten Interop Council, deren Vorsitzende ich bin. Wir sind ein Gremium von Expertinnen und Experten, das die Weichen für mehr verbindliche und international anerkannte Standards im deutschen Gesundheitswesen stellt. Und wir beraten Institutionen und die Politik. Der Interop Council ist ein sehr machtvolles Instrument des Bundesministeriums für Gesundheit, um Hersteller dazu zu bringen, einheitliche Vorgaben in ihre Software zu implementieren.

Wie sähe ihrer Meinung nach ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem aus?

Das bedeutet, dass mit allen Mitteln verhindert wird, dass die Menschen überhaupt erst krank werden. Vor allem chronische Krankheiten, Fettleibigkeit, schlechte Ernährung usw. lassen sich mit Maßnahmen vorbeugen, die wir digital unterstützen können. Mit digitalen Helferlein, wie Gesundheitsapps oder Online-Fitnessstudios, können wir die Menschen darin unterstützen, gesund zu altern und gar nicht erst krank zu werden. Metabolische Krankheiten wie Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen lassen sich dadurch verhindern oder zumindest verzögern. Die Prävention ist also extrem wichtig. Unsere Krankenkassen müssen Gesundheit fördern und nicht nur Krankheit bezahlen.
Ich wünsche mir außerdem, dass Forschungsdaten weltweit ausgetauscht und verglichen werden. Wir brauchen einen ethischen Umgang mit unseren Gesundheitsdaten, damit Patientinnen und Patienten bestmöglich behandelt werden können. Dafür müssten diese Daten standardisiert werden.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Prof’in Dr’in Sylvia Thun!

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